Die historische Reportage Cern 1974 Der Techniker raucht Pfeife und liest Comics, während vor ihm Atomkerne mit Lichtgeschwindigkeit in eine Blasenkammer schiessen. Friedrich Düürrenmatt (Text) Roli Deluxe (Illustration) Aus # 59 / Juli 2021 Zeitfenster 1974 China verbietet die Werke von Ludwig vanBeethoven und Franz Schubert wegen «bourgeoiser kapitalistischer Mentalität». Mit dem Song Waterloo gewinnt die schwedische Popgruppe Abba den Grand Prix Eurovision de la Chanson. Nach einem von den USA geförderten Putschwird General Augusto Pinochet Staatschef von Chile. In Washington tritt US-Präsident Richard M. Nixon wegen seiner Verwicklung in die Watergate-Affäre zurück. Vom ganz Kleinen Die Forschungsanlage Cern (Conseil européen pour la recherche nucléaire) wurde 1954 bei Genf errichtet, mitten im Kalten Krieg. Wissen um die Kräfte, die sich atomar entfesseln lassen, aber auch das Verstehen der Kräfte, die ein Atom zusammenhalten, ist gefragt. Heute noch. Letzteres Motiv führt auf eine vielleicht unendliche Forschungsreise in ein geheimnisvolles Universum derart kleiner «Teilchen», dass der Stofflichkeit suggerierende Begriff «Teilchen» eigentlich unpassend ist. Und je kleiner diese «Teilchen» sind, desto grösser ist paradoxerweise das Reisevehikel, um die ephemeren Erscheinungen an der Grenze des Denkbaren zu finden: Cerns unterirdische Anlage erstreckt sich über mehrere Quadratkilometer. Messen diese zyklopischen Geräte, gebaut nach menschlichen, geistigen Theorien, nur das, was der theoretisierende Mensch geistig erschaffen hat? Es ist eine von vielen – ewigen? – Fragen, die sich Friedrich Dürrenmatt, Autor unserer historischen Reportage, anlässlich seines Besuches im Cern, einem der bedeutendsten Tempel der Wissenschaft, stellt. Das Protokoll seiner Visite schrieb er als Reportage ins Nachwort seines fiktionalen Buches Der Mitmacher. Vom ganz Grossen Friedrich Dürrenmatt, in Konolfingen 1921 als Sohn eines Pfarrers geboren, hatte Philosophie studiert und erlangte als Erzähler, Essayist und Dramatiker Weltruhm. Im Alter von 40 Jahren schrieb er Die Physiker – im Jahr des Mauerbaus in Berlin, als das Mass an atomarer Aufrüstung gereicht hätte, um die Welt mehrfach zu zerstören. Dürrenmatts Komödie handelt vom Missbrauch der Wissenschaft durch die Politik und die damit verbundene Verantwortung der Forscher – ein unverändert aktuelles Thema. Den Cern-Physikern gefiel Dürrenmatts Werk derart gut, dass sie es für einen offziellen Anlass ins Rampenlicht rückten: Im «Weltjahr der Physik 2005» wurden Die Physiker in Genf wiederholt aufgeführt, was der Autor aus dem Emmental freilich nicht miterlebte: Friedrich Dürrenmatt war 1990 im Alter von 69 Jahren verstorben. Ob den Cern-Forschern im Jahr 2005 bekannt war, welche Antworten der grossartige Schriftsteller mehr als ein Vierteljahrhundert davor auf die ewigen Fragen gefunden hatte? An einem Samstag im Februar 1974 wird mir von einem Physiker, einem Bekannten Albert Vigoleis Thelens, das Europäische Laboratorium für Kernforschung gezeigt, das Cern. Am Stadtrand von Genf. Es ist kalt. Eine unermessliche Industrieanlage, kilometerweit scheint es, Gebäude an Gebäude. Wir besteigen zuerst einen Aussichtsturm mit Sicht über das Ganze. Thelen, der mitgekommen ist und den Ausblick schon kennt, amüsiert sich, ihm kommt der Aufwand, der da getrieben wird, komisch vor, ich bin verwirrt, der bescheidene Arbeitstisch Otto Hahns steht mir vor Augen, auf welchem die erste Atomspaltung glückte, irgendwo sah ich ihn abgebildet, er hätte auch in Doktor Fausts Kabinett gepasst: einige Batterien, Glühbirnen, Spulen, ein Paraffnschutzring; und nun diese Ungeheuerlichkeit, die Experimentalphysik braucht nicht zu sparen, hier bastelt sie mit Zyklopenarmen und Millionenkrediten. Wir fahren in einem Auto herum, die Anlage zu besichtigen, zu Fuss wäre es nicht zu schaffen, ein Tagesmarsch. Zuerst eine Blasenkammer, von aussen ein bescheidenes Industriegebäude, hangar- oder schuppenähnlich in meiner Erinnerung. Im Vorraum sitzen Techniker um einen Tisch, einer raucht eine Pfeife. Wir müssen die Uhren abgeben, das magnetische Feld sei zu gross. Im Innenraum steht ein gewaltiges Monstrum, tausend Tonnen, schwer zu beschreiben, weil Vergleiche fehlen. Wir besteigen eine Treppe, befinden uns wie auf einer Kommandobrücke, in meiner Tasche fühle ich, wie sich die Schlüssel bewegen, gegen die Maschine streben: Ein metallenes Feuerzeug, dann ein Messer bleiben an ihr kleben. Gewaltige Entladungen, weisse Elektronenblitze, wie Herzschläge eines Giganten; durch ein Fenster erblicken wir in einem aufzuckenden blauen Muster die Spuren der in die Blasenkammer schiessenden Atomkerne, die durch den 628 m langen Ring des Protonensynchrotrons gerast sind, immer wieder, dabei durch 14 Energiestösse immer mehr beschleunigt wurden, immer unglaublicher, bis sie einen Weg zurückgelegt hatten, der beinahe so lang ist wie die Strecke von der Erde zum Mond, zuletzt fast mit Lichtgeschwindigkeit dahinschiessend. Drei Kameras fotografieren jeden Blitz, die drei Fotos werden stereometrisch ausgemessen, alles automatisch, Hunderttausende von Aufnahmen für ein einziges Experiment, Techniker setzen Filmrollen ein, in einer halben Stunde verbraucht jede Kamera einen 600 m langen 500-mm-Film. Als wir zurückkommen, sitzen im Vorraum zur Blasenkammer immer noch die Techniker, machen Eintragungen, wenigstens hin und wieder, sie haben Zeit, lesen Zeitungen, der mit der Pfeife liest Comics, eine Atmosphäre entspannter Gemütlichkeit. Wir legen die Armbanduhren wieder an, die Techniker beobachten uns dabei gelangweilt, dann Fahrt zum Kontrollraum des Speicherrings oder des Synchrozyklotrons oder des Protonensynchrotrons oder aller Anlagen zusammen, ich weiss es nicht mehr, wahrscheinlich ist schon längst die ganze Beschreibung ein Missverständnis, der Raum verliert sich im Dunkeln, seine Grösse ist schwer abzuschätzen. Wir erblicken durch eine Glastür Hunderte von Lämpchen, Schalttafeln, kleine Televisionsscheiben, wie in einem Science-Fiction-Film, auch hier zeitungslesende Techniker, sie bewegen sich wie in einem Aquarium, warten auf irgendeine Panne, auf ein Tuten oder Pfeifen, auf irgendein akustisches Signal, um dann einzugreifen, zwei greifen offenbar auch ein, zur Freude Thelens, der schon hofft, alles gehe in die Luft, und nicht bedenkt, dass er dann auch mitflöge; sie telefonieren, ein Dritter kommt, sie neigen sich über einen Kontrolltisch, einer telefoniert wieder, worauf sie beruhigt auseinandergehen, die Panne ist behoben oder wird anderswo behoben oder hat nicht stattgefunden, auch ein Kontrolllämpchen kann sich irren, oder das akustische Signal wurde aus Versehen ausgelöst oder überhaupt nicht, vor der Glastür stehend hätten wir es ohnehin nicht gehört. Wir gehen weiter, besteigen wieder das Auto. Über dreitausend Leute beschäftigt die Anlage, die meisten nur mit dem vertraut, was sie zu tun haben: zu kontrollieren, Spulen auszuwechseln, Buch zu führen, irgendetwas zu installieren oder zu reparieren; vom Sinn des Ganzen wissen nur wenige, eigentlich nur die Wissenschaftler, die Physiker, und von denen auch bloss die Kernphysiker, und von den Kernphysikern nur die Spezialisten unter ihnen, die sich mit irgendwelchen Teilchen beschäftigen, mit den Neutrinos zum Beispiel, und nicht mit dem gesamten geradezu ungeheuerlichen Gebiet, das der Atomkern als Komplex darstellt; diese Teilchen- Spezialisten sind am Cern in der Minderzahl, sie stellen eine lächerliche Minderheit jener dar, die hier beschäftigt sind, dazu werden neunzig Prozent von den Versuchsanordnungen, die das Cern durchführt, von Universitäten irgendwo in Europa und in den Vereinigten Staaten ausgeheckt, eingereicht und ausgewertet, das Cern wird von Technikern, nicht von Physikern in Schwung gehalten, die Physiker treiben sich hier eigentlich nur aus Schicklichkeit irgendwelchen Politikern gegenüber herum, falls sie sich überhaupt hier herumtreiben, die Politiker müssen schliesslich das Geld geben oder entscheiden, ob das Geld gegeben werde. Wir geraten in eine Halle voller Computer, die errechneten Resultate werden irgendwann an irgendeinen der Physiker oder, genauer, an irgendeinen der Spezialisten unter den Kernphysikern weitergeleitet oder an irgendeinen Spezialisten auf irgendeiner Universität geschickt oder, noch genauer, an das Team, dem er vorsteht, denn jeder Spezialist steht heute irgendeinem Team von Spezialisten vor (es kann heute einer noch so sehr Spezialist sein, es gibt in seinem Spezialgebiet immer noch Spezialgebiete, die immer noch Spezialisten hervorbringen), mit einem Mathematiker im hintersten Hintergrund des Teams, der die Arbeit all dieser Spezialisten auf ihre mathematische Stubenreinheit hin überprüft, als eine Art wissenschaftlicher Jesuitenpater – hat doch jede physikalische Aussage auch mathematisch zu stimmen, wie früher jede theologische dogmatisch in Ordnung sein musste und heute wieder jede ideologische linientreu zu sein hat. Dort in diesen Teams, kann ich mir denken, werden weitere Computer gefüttert, ein Computer füttert den anderen und dieser wieder andere, wobei der Mensch vor allem dazu nötig ist, herauszufinden, ob die Computer, die da unaufhörlich rechnen, nicht falsch rechnen; die Computer seien schliesslich nichts anderes als idiotische Rechengenies auf elektronischer Basis, wird uns erklärt, ein falscher Kontakt, und schon rechne der Computer mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit in einer falschen Richtung drauflos, Resultate abliefernd, die ebenso falsch wie unbegreiflich seien und die, werden sie ernst genommen, zu völlig phantastischen Atommodellen führen würden. Auch diese Pannen kämen vor, sogar oft, zum Glück besitze das Cern einen Mathematiker, der ebenfalls ein Rechengenie sei wie die Computer, wenn auch ein nicht so geschwindes, dafür ein intelligenteres, weil eben ein menschliches, der ungefähr, mehr instinktiv, er wisse selbst nicht wie, abzuschätzen wisse, ob seine elektronischen Brüder richtige oder falsche Resultate fabrizierten, ein Computerpsychiater also oder Computerseelsorger. Erleichterung unsererseits, der Mensch hat doch noch seine Aufgabe. Im Übrigen sei das Cern auch an sich nicht überzubewerten. Gewiss, es sei wirklich grossartig, unwahrscheinlich, wie es als Organisation funktioniere, doch sei das Cern schliesslich nur da, um die Mutter Natur in Schwung zu setzen, die träge Materie zu beschleunigen, ihr mal Beine zu machen, stur, hartnäckig, immer hartnäckiger. Schon sei eine neue, noch gewaltigere Blasenkammer konstruiert, leider gerade ausser Betrieb, der Hangar, worin sie stehe, vorsorglich leicht gebaut für den Fall einer an sich unwahrscheinlichen Explosion, diese Halle sei letzthin vom Sturmwind weggeblasen worden; Albert Vigoleis Thelen grinst, ich grinse mit, wenn auch leicht verlegen – am gleichen Nachmittag in Neuchâtel, als in Genf dieser Hangar davonflog, ich erinnere mich, erreichte der gleiche Sturm 160 km/h, auf dem Felsen über meinem Haus musste ich mich in den Wald retten, die Hunde winselten, ein Krachen, ich erreichte eine Lichtung, eine grosse Buche war etwa acht Meter über dem Boden von den wütenden Luftmassen entzweigerissen wie ein zersplitterter Bogen –, und so haben wir jetzt dafür in Genf Pech, der Direktor der Blasenkammer bedauert, er hätte uns ein noch gewaltigeres magnetisches Feld vorführen können, wäre der Orkan nicht gewesen. Doch spielen Pannen keine Rolle, das Cern weitet sich ohnehin weiter aus, eine Art umgekehrte Nasa, die Erforschung immer kleinerer Teilchen erfordert immer riesenhaftere Einrichtungen, immer zyklopischere Installationen, schon ist ein Superprotonensynchrotron für eine Milliarde Schweizer Franken im Bau: zehn Meter unter der Erde eine Maulwurfmaschine angesetzt, die einen 4 m breiten, kreisrunden, 7 km langen Schacht durch das Gelände frisst, meist im französischen Gebiet, die Schweiz ist für das Cern längst zu klein geworden. Man hofft, die Quarks zu entdecken, wobei unter Quark nicht ein Milchprodukt, sondern das kleinstmögliche Materieteilchen zu verstehen ist, von dem man hofft, es sei vom Superprotonensynchrotron aufzuspüren, falls es die Quarks überhaupt gibt, denn dass man mit der gewaltigen Anlage etwas sucht, was es gar nicht gibt – vielleicht gar nicht geben kann –, ist natürlich auch möglich. Auch wird zugegeben oder beinahe fast zugegeben, man weiss nicht recht, ob man es bestreiten soll oder zugeben darf, dass, wenn immer mächtigere Superprotonensynchrotrone, immer gewaltigere Speicherringe, immer monströsere Blasenkammern gebaut würden, man sich dann fragen müsse oder solle, ob der Mensch nicht Gefahr laufe, schliesslich Ur-Teilchen zu erfinden, statt zu finden. Doch wie dem auch sei, man möchte endlich dem Geheimnis des Neutrinos auf die Spur kommen, insoweit dieses Geheimnis überhaupt zu lüften sei, das Geheimnis eines Teilchens, das zwar eine Energie, doch keine Masse aufweise oder fast keine Masse, einhundert Billionen solcher Teilchen schössen oder flössen in jeder Sekunde mit Lichtgeschwindigkeit durch unseren Körper, die Erde sei für sie nichts als ein durchlässiger nebulöser Ball, eigentlich überhaupt nicht vorhanden, wobei sich diese masselosen Teilchen, wie einige Physiker annehmen, noch um sich selber drehen, wie uns erklärt wird, etwas verlegen freilich; denn einerseits versichert uns der Physiker, er verstehe auch nicht viel davon, er sei kein Neutrinospezialist, und man dürfe die Teilchen nicht allzu materialistisch auffassen, sei es doch eigentlich unmöglich geworden, sich vom Bau eines so vertrackten Gebildes, wie es das Atom darstelle, eine Vorstellung oder gar ein Modell zu machen, jedenfalls müsse es widersprüchlich beschrieben werden, als «Doppelnatur», anderseits wird er von Thelen und mir, neugierig wie wir als Schriftsteller nun einmal sind und bereit, als Erfinder von Geschichten auch in den Neutrinos etwas Erfundenes zu sehen, nun doch oder gerade deswegen in die Fragen verwickelt, was denn ein Neutrino eigentlich sei, was man denn unter einem masselosen Teilchen verstehe, das um sich selbst rotiere, ob nicht vielmehr der Raum um dieses Teilchen, um diesen Punkt herumwirble und wir und die Welt vielleicht mit, wie auf einem wahnwitzigen Karussell um eigentlich nichts, eine Idee, die Thelen besonders ausschmückt, ob es sich etwa um ein blosses Gedankending handle, ob sich am Ende das Cern nicht vielleicht mehr als eine metaphysische, ja theologische denn als eine physikalische Versuchsanstalt herausstellen könnte, Fragen, die nicht fair waren; als ob man einen Theologen frage, der eben Gott entmythologisiert hat, was denn Gott in Wirklichkeit sei, ein Prinzip, eine Weltformel oder was denn eigentlich nun, ohne zu begreifen, dass diese Frage untheologisch ist, ja dass gerade moderne Theologie nur noch unter der Bedingung möglich ist, dass solche Kinderfragen nicht mehr gestellt werden. So lächelt der Physiker denn auch nachsichtig: Niemand sei sich klar darüber und könne sich klar darüber sein, was denn eigentlich, ausserhalb der physikalischen Fragestellung, «in Wirklichkeit» diese Teilchen seien, die man da erforsche, erforschen wolle oder zu erforschen hoffe – oder zu erfinden, weil es für den Physiker gar kein «ausserhalb» geben könne, dieses falle vielmehr in das Gebiet der philosophischen Spekulation und sei für die Physik irrelevant. Gleichgültig. Hauptsache, dass man forsche, überhaupt neugierig bleibe. So unwahrscheinlich und paradox das Ganze auch sei, fährt der Physiker schliesslich fort, es stelle bis jetzt das weitaus Sinnvollste dar, was Europa hervorgebracht habe, weil es das scheinbar Sinnloseste sei, im Spekulativen, Abenteuerlichen angesiedelt, in der Neugierde an sich. Thelen, sein Freund und ich entfernen uns beinahe stolz durch leerstehende Büros, auf den Tischen immer wieder Comics. Im Übrigen, wird uns beiden, das Gespräch abschliessend, vom Physiker klargemacht, und es ist ein kleiner Dämpfer auf unsere laienhafte, zukunftsbejahende Begeisterung, sei die Anlage nicht für Genies geschaffen worden, sondern für anständige Durchschnittsphysiker, Genies könnten Versuchsanordnungen verlangen, die einfach zu kostspielig wären, oder gar herausfinden, dass das Cern überhaupt überflüssig sei. Während wir zum Auto zurückgehen, um Erdwälle herumkurven, aufgeschüttet, um vor harten Strahlungen zu schützen, denke ich an Doc, die Hauptfigur des Mitmachers, die ich in Mannheim, ein halbes Jahr vorher, Comics lesen liess auf Vorschlag des Hauptdarstellers, denke ich an Möbius aus den Physikern, an meine Inszenierung dieses Stücks in Reinach, denke ich schliesslich wieder an Faust. Faust ist der «freie» Wissenschaftler, Möbius will noch der «freie» bleiben, Doc ist der «unfreie», auch darin eben der Wissenschaftler in seiner modernen Form, zu dem die Unfreiheit gehört – gleichgültig, in welchem ideologischen Machtbereich er sich aufhält: Forschung vermag sich immer mehr nur der Staat zu leisten und damit eine ganz bestimmte Menge Wissenschaftler – der Rest wird abgeschoben in die Gymnasien, in die Privatschulen, in die Industrie; wer auf der Strecke bleibt, wer nicht unterkommt, hat den Beruf zu wechseln. Wird Faust als Wissenschaftler in die Magie getrieben, flüchtet sich Möbius vor dem Ruhm und vor den Folgen seiner Wissenschaft ins Irrenhaus, wird Doc auf die Strasse gesetzt – das ist der triste Unterschied. Faust lässt sich mit dem Teufel ein, Möbius wird zum Mörder, Doc fährt Taxi. Hier am Cern ist alles gut besoldet, führt der Freund Thelens, der Physiker, ein CD-Abzeichen am Wagen, an; über die ökonomische Seite Faustens tappen wir im Dunkeln: Urväterhausrat, Büchsen, Gläser, Instrumente, Bücherhaufen, ob sie ihm gehören oder nicht, gleichgültig, Geld hat er keines, wie der Alte behauptet. Möbius flüchtet sich ins Irrenhaus, nicht unberechtigt als Genie, wie sich später herausstellen wird, wenn auch die Rechnung leider nicht aufgeht. Doc dagegen lebte als Wissenschaftler in gehobenen Gesellschaftskreisen, so wie die Wissenschaftler hier, die Wirtschaftskrise traf ihn doppelt, vielleicht wird sie auch einmal das Cern treffen.