Wem gehört die Stadt? In Europas Städten wird der Platz knapp. Fünf Geschichten über Mieter, Kinder, Flüchtlinge, Fahrradfahrer. Und Fledermäuse. Anant Agarwala, Carole Koch, Dirk Liesemer, Judit Hluig, Jenni Roth (Text) Gregory Gilbert-Lodge (Illustration) Aus # 36 / Semptember 2017 Zürich Es ist ein fieser Trick, mit dem die Bewohner der Siedlung Winzerhalde zum Umzug gezwungen werden. Wenn sie am Abend ahnungslos in ihre Altbauwohnungen heimkehren wollen, wird ihnen das nicht gelingen. Sie werden immer wieder am Eingang abrutschen. Und irgendwann aufgeben. Aber auch Conrad von Känel hat heute ein Problem: «Wo ist der Monteur?», ruft der Bauleiter, den hier alle nur Coni nennen, «verdammt.» Es ist kurz nach sieben in der Früh, auf der Baustelle der Siedlung Winzerhalde herrscht Hochbetrieb. Coni, ungesund braun, Goldkettchen am Hals, hält Ausschau nach dem weissen Lieferwagen, der längst vor der Winzerhalde 36 parken müsste. Die Wohngenossenschaf liegt im Westen von Zürich, weit weg von den schicken Läden der Bahnhofstrasse. Hier hat die Stadt etwas von einem Park. Wäre da nicht die Sanierung der über dreissig Jahre alten Backsteinsiedlung, die das Areal momentan zur Grossbaustelle macht – und die Zwangsumsiedlung, die heute einem ganz speziellen Teil der Bewohner bevorsteht. Eben noch war Coni in den Ferien, jetzt ist er schon wieder «grausam unter Druck», wie er sagt: 44 Wohnungen, zehn Millionen Franken, dafür hat Coni genau neun Monate Zeit. Der enge Zeitplan ist aber nicht sein Problem, und auch der Denkmalschutz nicht. Conis Problem ist, dass in den alten Rollladenkästen 200 Fledermäuse wohnen. Kommt bei der Demontage auch nur eine zu Schaden, droht ein Baustopp. «Bei mir gibt es aber keinen Baustopp», sagt Coni, und es klingt wie eine Drohung. Er kramt in seiner Mappe nach der E-Mail des Architekten, der schon in der Planungsphase eine «Riesenhektik» verursacht habe: Die Monteure dürfen die Rollläden nicht einfach abreissen. Stattdessen müssen sie Folien unter die Eingangsschlitze kleben. Die sollen die Fledermäuse daran hindern, in ihre Wohnungen zurückzukrabbeln. «Wenn es glatt ist, rutschen die Viecher ab», sagt Coni, «dann kommen sie nicht mehr zu den Schlitzen hoch.» Ihnen bleibt also nichts übrig, als in die nächsten Rollos umzuziehen. Coni liest die detaillierten Anweisungen des Architekten vor: «Frau Safi, Fachstelle Fledermausschutz, macht ein Klebemuster. Das Muster ist die verbindliche Referenz, an die sich der Monteur zu halten hat. Die Abklebung hat in der Kalenderwoche 10 zu erfolgen. Keinesfalls früher. Die Fachstelle Fledermausschutz geht davon aus, dass keine Tiere evakuiert werden müssen.» Fledermäuse stehen in der Schweiz schon seit über 50 Jahren unter Schutz, trotzdem sind 15 der 30 nachgewiesenen Arten auf der Roten Liste. Drei davon sind vom Aussterben bedroht und fünf weitere stark gefährdet. Damit zählen Fledermäuse auch zu den Opfern der Gentrifizierung: Sie wohnen gern in unsanierten Altbauten. Aber die werden in Zeiten von Bevölkerungswachstum und verdichtetem Bauen of renoviert oder abgerissen. Aus staubigen Dachböden werden teure Apartments, aus bröckelnden Fassadenritzen glattverputzte Wände. In der Winzerhalde wohnten die Fledermäuse bis jetzt ideal: Die Siedlung liegt zentral und doch ruhig, die Rollos sind gut isoliert, und Verpflegungsmöglichkeiten gibt es in unmittelbarer Nähe. Das Flussufer, wo in der Dämmerung Mücken gejagt werden können, ist keine 50 Meter weit weg. Mitten in der Stadt. Coni saniert zwar schon seit 30 Jahren Altbauten in Zürich, eine Fledermaus- Evakuierung hat er trotzdem noch nie erlebt. «Ich dachte, das sei ein Witz», sagt er. Auf Lufbildern sieht Zürich aus wie ein graugrünes Mosaik: ein knapp 90 Quadratkilometer grosses Geschachtel aus Häusern, Schrebergärten, Friedhöfen, Fabriken, Parks. Im Vergleich dazu wirkt die umliegende Landschaf wie tot, immer mehr Monokulturen, ein Feld nach dem anderen, Ton in Ton. Es gibt keine Nischen, keine Hecken, kein Futter. Und so flüchten nach dem Menschen auch immer mehr Tiere vom Land in die Städte. Zum leisen Treck der Einwanderer gehören Amseln, Marder oder Füchse. Heute leben geschätzt rund 15 000 Tierarten im urbanen Raum, mehr als ein Drittel der Schweizer Artenvielfalt. Wem die Stadt gehört – das wird nicht bloss zwischen Menschen entschieden, sondern auch zwischen Mensch und Fledermaus, Mensch und Eichhörnchen, Mensch und Waschbär oder Wildschwein. Davon berichten Schlagzeilen wie:«Eichhörnchen verfolgt Frau, bis die Polizei kommt», «Waschbären machen Randale unter dem Dach» oder «Schweizer Städte warnen vor Wildschweinen». Karin Safi ist als Fledermausschutz-Beaufragte für solche Probleme zuständig. Im Aufrag des Kantons Zürich betreibt sie eine Art Mieterschutz für Fledermäuse. Werden Fledermäuse bei Sanierungen aus ihren Wohnungen geschmissen, greift sie als Erstes zum Telefonhörer. Ihr Büro liegt in Winterthur, 25 Bahnminuten von Zürich entfernt, im ersten Stock einer alten Seifenfabrik. Hier berät sie auch Menschen, die ihre heimlichen Untermieter für Hausbesetzer halten. Jetzt gerade ist das Geschrei am anderen Ende der Leitung deutlich zu vernehmen: «Wissen Sie, ich bin ein grosser Tierliebhaber, aber das ist doch der Gipfel!» Safi lässt die Anrufer immer erst mal reden, Dampf ablassen, wie sie es nennt. Manche Leute weinen am Telefon, weil sie vor den kleinen Fledermäusen so grosse Angst haben. Andere schreien vor Wut, vor allem dann, wenn es um den Dreck auf ihren Terrassen geht. Fledermauskot ist so gross wie ein Reiskorn. Die Biologin, 41, wirkt wie eine Friedensstiferin. Nur wenn man sie «Batwoman» nennt, so wie Bauleiter Coni das manchmal tut, mag sie das nicht. Obwohl sie schon in einen Hollywoodstreifen passen würde: Alles an ihr ist schön, das Gesicht, die blonden Haare, die Gesinnung. Seit 15 Jahren kämpf sie für das Überleben der Fledermäuse. Schon als Kind war sie fasziniert davon, dass die Tiere ein Parallelleben führen, mitten unter uns. «Ich finde sie niedlich», sagt Karin Safi, «und sie sind nützlich, manche Arten fressen bis zu 3000 Mücken pro Nacht. Aber sie polarisieren: Entweder man gruselt sich oder ist ein Fan.» Es ist ein Kampf gegen Vorurteile, Unwissen, Intoleranz. Mit einer Kollegin wacht sie über 4000 Fledermausquartiere im Kanton Zürich, mehr als 300 befinden sich mitten in der Stadt. Fledermäuse seien wichtig für die Biodiversität, erklärt Safi. Sie vermehren sich nicht wie Mäuse. Sie bringen keinen Dreck in ihren Unterschlupf. Zudem richten sie auch keinen Schaden an. Diese Argumente setzt die Biologin in Gesprächen ebenso ein wie ihren Charme. Immer etwas Positives sagen, die Untermieter als Natur-Rarität anpreisen, lächeln. Beim Architekten der Siedlung Winzerhalde hat das funktioniert. Er hat sich für die Sache der Fledermaus mehr als ins Zeug gelegt. In seiner E-Mail an Bauleiter Coni klingt das so: «Wenn Tiere vorgefunden werden, gibt es 2 Varianten für das Vorgehen. Variante 1 (der Unternehmer evakuiert nicht selber): Die Tiere dürfen nicht aus den Rollladenkästen gescheucht werden. Anruf des 24-Stunden- Notfalltelefons durch den Handwerker. Von der Tierschutzorganisation wird die Evakuierung organisiert. Es gilt ein punktueller Baustopp.» Ist dieser Aufwand nicht etwas übertrieben? «Das ist eine ethische Frage», sagt Karin Safi. «Tatsache ist, dass Fledermäuse in unser biologisches System gehören und dafür sorgen, dass es intakt bleibt.» Es kommt aber auch immer auf die Art an. Die Mausohren zum Beispiel sind mittlerweile so rar geworden, dass sie den Abriss eines Hauses verhindern können. Bei den Rollladenbewohnern der Winzerhalde handelt es sich «nur» um Grosse Abendsegler. Sie sind nicht so selten wie die Mausohren, wohnen jedoch genau wie diese dauerhaf in ihren Unterschlüpfen. Trotzdem findet sogar Safi, dass der Architekt es sehr genau genommen hat mit dem Schutz: «Wenn der Aufwand für die Bauleute so gross ist, versuche ich einen besonders diplomatischen Ton anzuschlagen.» Safi war persönlich auf der Baustelle, vor Coni von Känel und versammelter Mannschaf ist sie auf die Leiter gestiegen, um ein Klebemuster anzubringen. Das hat die Männer beeindruckt. Vom Architekten bis zum Rollladenbauer, der die Abklebung zuerst an die Leute vom Zoo delegieren wollte. Coni klingelt an der ersten Tür, Winzerhalde 36a, während sich zwei Monteure in blauen Arbeiterhosen bereit machen. «Grüezi», sagt er, als eine Frau namens Stalder die Tür öffnet. Jetzt ist er sogar ein bisschen Tierschützer, obwohl er Tiere sonst «vor allem als Wurst auf dem Grill» mag. Coni: «Wir kommen wegen der Fledermäuse. Haben Sie welche?» Stalder: «Extrem viele.» Coni: «Ah ja?» Stalder: «Ist doch toll, wie die Wildtiere die Stadt zurückerobern.» Coni: «Na, solange es keine Pumas sind …» Stalder: «Fledermäuse fressen die Mücken.» Coni: «Ah ja? Aber sie scheissen auch alles voll, oder?» Stalder: «Ja, bei der Frau Maurer auf dem Vorplatz, da ist alles voll.» Coni: «Eben.» Frau Maurer, Winzerhalde 42, findet Fledermauskot ekelhaf und droht mit Auszug. Frau Stalder hingegen, Winzerhalde 36, hätte sie am liebsten auch als Untermieter. Verglichen mit anderen Tierarten haben es Fledermäuse ganz gut. Sie sind «exotisch», interessant und haben deshalb eine Lobby. Es gibt Fledermaus-Spaziergänge, Fledermaus-Hotlines und eine Fledermaus-Nothilfe. In Zürich machen 70 Ehrenamtliche Monitorings. Es soll sogar Leute geben, die gerne eine Fledermaus als Haustier möchten. Jetzt wird nachgeschaut, ob bei Frau Stalder eine Fledermaus evakuiert werden muss. Das wäre dann Variante 2 aus der E-Mail des Architekten: «Der Unternehmer evakuiert selber. Die vor Ort eingesetzten Handwerker werden vorgängig instruiert. Ihre Namen werden notiert. Namensliste zuhanden des Architekten. Die Handwerker haben die benötigten Hilfsmiel vorgängig vorbereitet (Handschuhe, präparierte Schachtel, Flyer).» Die Handwerker, die diese verantwortungsvolle Aufgabe in die Tat umsetzen, sind vier Stunden später fertig. Sie mussten die Nummer des Notfalltelefons nicht wählen und auch keine Fledermaus evakuieren. Nicht einmal ein Kotkörnchen haben sie gefunden. Coni nickt zufrieden. Jetzt kann er sich wieder den wirklich wichtigen Dingen zuwenden. Den falschen Türen zum Beispiel, die der Architekt auch noch hat einbauen lassen. «Er wurde jetzt vom Projekt abgezogen», sagt Coni mit Genugtuung in der Stimme, «der geht besser zum Fledermausschutz.» (Carole Koch) Köln Am Montag stirbt eine 43-jährige Radfahrerin unter einem Lkw. Er hat sie beim Abbiegen übersehen. Am Dienstag wird eine 63-jährige Fussgängerin bei einem Unfall mit einem Lastwagen schwer verletzt. Auch sie ist übersehen worden. Als am Mittwoch ein Transporter eine 33-jährige Radfahrerin überfährt, da hält Reinhold Goss es nicht mehr aus. Er beschliesst, sich einzumischen. Goss berät Firmen zu Sofwaresystemen. Er hat viele Freunde. Er hat genug zu tun. Aber die drei Frauen, die innerhalb dieser drei Tage Ende September 2015 verunglückt sind, die lassen ihn nicht los. Goss ist fast zwei Meter gross, in der Höhe hat man vom Radweg aus eine gute Sicht über die Autos. Seine Frau und seine Töchter haben eine ganz andere Perspektive auf den Strassenverkehr. Wenn sie auf dem Radweg fahren, sehen sie die Autos nicht – und die Lkw-Fahrer wiederum sehen sie nicht. Reinhold Goss hat eine Stammkneipe. Dort trifft man sich beim Bier und redet darüber, was sich alles ändern muss in der Welt. Reden kann Reinhold Goss gut. Und wenn sich alle einig sind, dass es so nicht weitergeht, dann bestellen sie noch ein Bier, trinken es aus und gehen heim. Aber nach diesem Mittwoch und den drei verunglückten Frauen nicht. «Was machen wir jetzt?», fragt Reinhold Goss. Eine Demo veranstalten? Keiner kennt sich so richtig aus. Goss schreibt seine Frage an eine Gruppe Fahrradaktivisten. Man muss doch etwas fordern. Visionen haben. Wem gehört denn eigentlich die Stadt? Die Radwege an den Kölner Ringen sind gefährlich. Streckenweise ist die Fahrt eher ein Hindernislauf: hier ein Loch im Pflaster, da ein parkendes Auto, dort eine irrlaufende Fussgängergruppe – da ist der Bürgersteig plötzlich sehr schmal. Wenn es regnet, fährt man gar nicht, dann rutscht man. Goss ist ein politischer Mensch. Und er glaubt, wenn etwas schiefläuf, dann muss man das ändern. «Mach doch mal eine Eingabe», sagte einer der Fahrradaktivisten zu ihm. Bitte? «Beschwer dich!» Reinhold Goss fährt selber Rad. Nicht, weil er sich kein anderes Verkehrsmittel vorstellen könnte, nicht aus Verachtung gegenüber Autos, sondern einfach so. Er ist gern unabhängig. Er fährt bei der «Critical Mass» mit, einem Schwarm von Radfahrern, die sich treffen, um die Stadt zurückzuerobern. Sie fahren kreuz und quer und über Rot, und weil sie so viele sind (und die Polizei sie schützt), können sie total ungestört mitten auf der Strasse fahren. Das ist toll. Befreiend. Viele aus der unzufriedenen Masse haben keine Lust mehr, mit der Verwaltung zusammenzuarbeiten. Sie hätten zu of die Erfahrung gemacht, dass die unbeweglich sei, sagen sie. Aber Reinhold Goss ist zuversichtlich. Er beschwert sich also bei der zuständigen Stelle über den Verkehr am Ring. Es ist überraschend einfach. Dann startet er noch eine Online-Petition, die in wenigen Tagen Hunderte von Unterstützern findet. Es ist Oktober 2015. Der Ring sei eine Bundesstrasse, sagt Goss, aus der jetzt jener Boulevard werden solle, der hier einst geplant war. Goss findet Mitstreiter. Gemeinsam fordern sie, dass die Räder auf der Strasse fahren dürfen. Dafür gilt dann Tempo 30. Sie setzen noch ein Hashtag davor, fertig ist das Aktionsbündnis #RingFrei. Im November 2015 beantragt die Kölner Ratsfraktion, dass Radfahrer am Ring in Zukunf auch auf der Strasse fahren dürfen. #RingFrei stellt einen 10-Punkte-Plan vor: Weg mit den Radwegschildern und den Radwegen auf dem Bürgersteig, her mit Tempo 30, einer Verkehrsführung, die alle verstehen, einer exklusiven Fahrspur für Fahrräder, intensive Kontrolle der Wildparker und eine Kampagne mit dem Titel «Radfahren ist Verkehr», damit es auch alle kapieren. Der Ring ist eine der wichtigsten Strassen der Stadt. Und eine Rennstrecke für Autos. Der Sohn des einstigen Oberbürgermeisters Fritz Schramma starb hier 2001, weil zwei Autofahrer sich einen Wettkampf lieferten. Der Begriff Ring-Raser entstand. Der Ring wurde zu einem notorischen Problem in Köln. Oktober 2015 ist ein guter Zeitpunkt für Forderungen. In Köln ist Wahlkampf. Alle möglichen Versprechungen schwirren durch die Luf. Auch der Verkehr ist ein Thema. Köln rangiert in den Stau- Charts immer wieder ganz oben. Die unabhängige Kandidatin Henriette Reker erklärt, wenn sie Oberbürgermeisterin werde, dann werde sie die Strassenverkehrsordnung umsetzen, die 1997 per Gesetzesnovelle beschlossen wurde. Wenn man mit einer Gesetzesnovelle Wahlkampf machen kann, die 18 Jahre lang liegenblieb, dann hat eine Stadt ein Problem. Reker gewinnt. Nach dem Krieg war dies der Plan für Köln: Die Stadt sollte den Autos gehören. Aus heutiger Perspektive klingt das seltsam. Aber mit dem Auto verband sich einst die Hoffnung auf Freiheit und Flexibilität. Im Prinzip das, was viele heute mit dem Fahrrad verbinden. In Kopenhagen fahren heute schon mehr Räder als Autos, in Köln liegt der Anteil der Räder am Gesamtverkehr bei 17 Prozent, Tendenz steigend. Als jüngst die Busse und Bahnen streikten, gab es 50 Prozent mehr Radverkehr, der Autoverkehr nahm nur um 15 Prozent zu. Die Zukunf ist das Rad. Goss bekommt sehr schnell sehr unterschiedliche Reaktionen auf seine Eingabe. Phase eins: Euphorie. Goss hatte mit Widerstand gerechnet, stattdessen trifft er auf jede Menge Menschen, auch Politiker, die seine Idee unterstützen. Sogar die Chefs der vielen Möbelhäuser am Ring machen mit. Goss lernt: Der Autoverkehr ist für Geschäfsleute längst nicht mehr so interessant, die Kunden kommen heute mit dem Rad. Goss lernt überhaupt einiges. Verwaltungsdeutsch zum Beispiel, etwa das schöne Wort «Aufenthaltsqualität». Die nämlich soll am Ring verbessert werden. Für die Menschen, nicht für die parkenden Autos. Noch so eine Sache, die er lernt: Bevor irgendwas passiert, veranstaltet man immer einen Workshop. So müssen sich interessierte Laien erstmal in alles einarbeiten. In Köln gibt es einen Fahrradbeaufragten, der beschäfigt gleich ein ganzes Büro. Von allen möglichen Seiten prasseln Ideen auf Goss ein, von anderen Fahrradaktivisten, von den Grünen und den Linken. Eine davon ist, den Dokumentarfilm Bikes vs Cars zu zeigen. Aus einer globalen Perspektive wird in dem Film erzählt, wie weltweit Menschen die Städte, in denen sie leben, verbessern wollen. «Weniger Autos, mehr Liebe», so bringt es eine der Protagonistinnen auf den Punkt. Die öffentliche Filmvorführung wird ein grosser Erfolg. Auch die Verwaltung zeigt sich jetzt offen. Sie arbeitet ohnehin gerade an einem neuen Verkehrskonzept für die Innenstadt. Es gibt einen Workshop, es gibt Begehungen, Podiumsdiskussionen und erste Pläne. Man trifft sich, redet, und verhandelt. Und dann? Monate gehen ins Land, nichts passiert. Phase zwei beginnt: Frustration. Goss kann über kaum etwas anderes mehr reden als über Verzögerungstaktiken der Verwaltung, bei der er immer wieder nachfragt, wann es denn nun geschehen werde, dass endlich die Radwege verschwinden und die Ampelschaltung am Ring dem neuem Tempo angepasst wird. Wie sich rausstellt, sind die Ampeln eines der grössten Probleme. Die meisten Anlagen sind um die 30 Jahre alt, sie müssten ohnehin längst ausgewechselt werden. Das kostet Geld. Eine Zeitung schreibt, dass die Initiative #RingFrei diese Kosten verursache, Goss regt sich auf. Er schreibt der Verwaltung und der Zeitungsredaktion, die ihren Artikel darauin korrigiert. Es kommt ein neues Jahr und mit ihm eine neue Statistik: 2016 gibt es fast 30 Prozent mehr verunglückte Radfahrer als 2015, knapp 2000 Personen insgesamt. Es muss sich etwas ändern. Aber am Ring passiert nichts. Im Januar 2017, fast anderthalb Jahre nachdem die Kölner Ratsfraktion den Antrag stellte, dass die Fahrräder am Ring auch auf der Strasse fahren können, bekommt Köln eine eigene Verkehrsdezernentin, eine Frau, die sich nur um die Mobilität kümmern soll. Im Interview sagt sie: «Die Stadt Köln hat ein Umsetzungsdefizit.» Das macht jenen, die etwas ändern wollen, Hoffnung. Mittlerweile ist auch der Bereich des Fahrradbeaufragten der Stadt Köln gewachsen: Es arbeiten dort sechs Ingenieure, sechs Techniker, Zeichner und Verwaltungskräfe. Im Frühsommer kommen noch drei Ingenieure dazu. Fragt man nach, was sich denn tue beim Verkehrskonzept für die Innenstadt, so ist die Antwort: «Es tut sich jeden Tag viel.» Das findet Goss eben nicht. Die Verwaltung kündigt einen neuen Workshop an. Wie viele Workshops und wie viele Mitarbeiter braucht man denn eigentlich, um einen Radweg zu verlegen? Während Phase zwei reagieren sie in der Kneipe genervt auf das Thema Radverkehr und Verwaltung. Goss’ Töchter sagen zu ihm: «Papa, bitte, nicht schon wieder der alte Kram.» Seine Frau sagt: «Ich kann es nicht mehr hören.» Aber Goss macht weiter. Diese Geschichte soll doch Mut machen. Er will zeigen, dass man etwas verändern kann. Dass die Stadt den Menschen gehört, die darin leben. Die Verwaltung, so scheint es, macht in Köln auch Politik. Einzelne Mitarbeiter wirken offen und engagiert, aber der Apparat an sich, der hakt, findet Goss. Die Stadt sammelt alle möglichen Daten über den Verkehr, die sie kostensparend in Indien auswerten lässt. Aber sie nutze die Daten nicht, sagt Goss. Ende März 2017 passiert etwas: Auf einem kleinen Stück des Rings werden die Ampeln ausgetauscht. Es gibt ein Schild, das anzeigt, dass hier keine Benutzungspflicht für Radwege mehr besteht; die Fahrradfahrer dürfen nun auch auf der Strasse fahren. Und es gibt Tempo-30-Schilder. Das eine Schild steht hinter einer Werbetafel, das andere hinter eine Litfasssäule. Von der Strasse aus, im Auto sitzend, kann man die Schilder nicht sehen. Es ist April 2017. Anderthalb Jahre lang hat Goss nun dafür gekämpf, dass auf dem kompletten Ring die Räder auf der Strasse fahren dürfen. Kein Erfolg in Sicht. In der Kneipe reden sie längst über anderes. Die Fahrradaktivisten helfen auch nicht mehr, sie sagen, dass die Stadt #RingFrei als Vorzeigeprojekt benutze, damit sie sonst nichts tun müsse. Reinhold Goss reicht es. Er sagt zu seiner Frau: «Ich höre auf. Ich lasse es. Es bringt nichts.» Und sie sagt: «Auf gar keinen Fall. Du machst weiter. Jetzt erst recht.» (Judith Luig) Hamburg Wenn Bernward Benedikt Jansen über den Spielplatz schreitet und mit den dunklen Trekkingschuhen zur Kontrolle über den Boden schabt, spricht er von abgespielten Flächen, zu kiesigem Sand und «Erneuerungsbedarfen». Er sieht das nächste Projekt. Wenn Siri in Gummistiefeln über den Spielplatz rennt, zeigt sie auf Sträucher, in denen sie gern mit ihrer Freundin Merle kocht, auf den Allesbaum, an dem Erdbeeren und Ananas wachsen, und das Wohnmobil, in dem Platz für vier Kinder ist. Sie sieht eine unsichtbare Welt. Ein Ort, zwei Paar Augen, keine Übereinstimmung. Und die Frage, wie beides zusammenpasst. Wir befinden uns in Ottensen, einem kleinen, saturierten Ausschnitt von Hamburg-Altona, dem charmant-schmutzigen Bezirk zwischen Elbe, Kiez und Blankenese. Von hier aus betrachtet, erscheint das deutsche Demografieproblem wie eine Fiktion. Auf den Bürgersteigen schiebt sich Kinderwagen an Kinderwagen vorbei, in den Strassen reiht sich Kita an Kita. 35 000 Personen wohnen in Ottensen, zwei Prozent aller Hamburger. Es geht ihnen gut. Die Geschäfe in den Erdgeschossen der Gründerzeithäuser verkaufen Natur-Kindermöbel, skandinavische Vintage-Klamotten und tibetische Klangschalen. Politiker lächeln weisszahnig von Plakaten, sie treffen sich nicht in Bierzelten mit dem Volk, sondern auf ein Glas Wein mit den Bürgern. Bei der letzten Wahl im Jahr 2015 machten hier 75 Prozent bei Rot, Grün oder Links ihr Kreuzchen. Ottensen ist das Klischee der linksliberalen Mittelschicht. Die Kinder hier heissen Elise, Emma und Luise, Leander, Emil und Elias. Sie sollen nicht nur vor der Glotze hängen. Sie sollen draussen spielen. 1,8 Millionen Menschen leben in Hamburg, sie fahren 770 000 Autos auf über 4000 Kilometern Asphalt. Die zweitgrösste Stadt Deutschlands nach Berlin ist eine dicht besiedelte Metropole, in der Hochhäuser in den ständig grauen Himmel schiessen und eine Baustelle die andere ablöst: eine Hölle für Kinder. Hamburg durfe sich 2011 «Grüne Hauptstadt Europas» nennen. Auf jeden Einwohner kommen statistisch gesehen rund 400 Quadratmeter Grünfläche. Theater, Museen, Sportvereine werben um den Nachwuchs. 760 Spielplätze verteilen sich auf 755 Quadratkilometern Stadtgebiet: ein Paradies für Kinder. Dieser Widerspruch ist Grossstadtalltag. 1000 Interessen konkurrieren um 1000 Quadratmeter. Hier die enorme Verdichtung. Dort das enorme Angebot. Dazwischen das Kind. Ottensen potenziert diese Zerreissprobe. Komplett zugebaut und keine freien Parkplätze, aber 21 Spielplätze auf engstem Raum. Der Fischi mit dem geschwungenen Skater-Parkour und dem grossen Sportplatz, der Eulenspielplatz mit dem muffigen Hühnerstall. Oder der Spielplatz Arnoldstrasse/Ecke Boninstrasse: zu Recht namenlos, 2514 Quadratmeter Mittelmass. Der Sand ist schmutzig, die Wippe banal, die Wasserpumpe pumpt nur hin und wieder. Toll hier, sagt Siri. Muss neu, sagt die Stadt. Geht beides, sagt Herr Jansen. Ein Mann mit Halbglatze, Sachbearbeiterbrille und sprödem Charme, nüchtern betrachtet ein gewöhnlicher Landschafsarchitekt aus dem Speckgürtel Hamburgs. Trotzdem könnte man in ihm auch einen Superhelden sehen: Playground-Man – er rettet Kinder vor der Langeweile! Jansen entwirf Spielplätze: zusammen mit denen, die einmal darauf spielen sollen. «Bürgerbeteiligungsprojekte» nennt sich das in Behördensprache. In Hamburg ist diese direkte Form der Demokratie in Paragraph 33 des Bezirksverwaltungsgesetzes vorgeschrieben: «Das Bezirksamt muss bei Planungen und Vorhaben, die die Interessen von Kindern und Jugendlichen berühren, diese in angemessener Weise beteiligen. Hierzu entwickelt das Bezirksamt geeignete Verfahren.» Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn dieser leicht anarchische Ansatz nicht minuziös durchstrukturiert wäre. 28 Punkte umfasst die Checkliste von Mathias Wollmann, Jansens Aufraggeber aus der Abteilung Stadtgrün des Bezirksamtes Altona. Punkt 1: Finanzierung. Punkt 2: Kampfmittelanfrage. … Punkt 6: Baumkontrolle. Punkt 7: Spielgerätekataster abfragen. … Punkt 13: Die erste Beteiligung. An einem saukalten Januartag erhebt Herr Jansen auf dem Spielplatz ohne Namen seine Stimme, um seine Bären vorzustellen. Schnuppi und Brauni, sagt Jansen, würden den Kindern heute helfen, er nennt sie seine «Beteiligungsbären». Kleine Köpfe, eingepackt in blaue, türkise, pinke Mützen, nicken in Richtung der Stofftiere. Die Eltern im Hintergrund halten sich an Bechern mit dampfendem Kaffee fest, verlagern ihr Gewicht von einem Fuss auf den anderen, um nicht festzufrieren. Schnuppi und Brauni, oll und ein bisschen durch den Wind, hocken reglos auf einem Plastikstuhl, als warteten sie auf weitere Anweisungen von ihrem Besitzer. Jansen hat mehrere Fortbildungen zum «kinderfreundlichen Planen» absolviert, später wird er die Bären mit den Kindern aus einem bunten Sprungtuch in die Luf werfen, um die Aufmerksamkeit hochzuhalten. Mit vier oder fünf Jahren macht Demokratie noch richtig Spass. Jansen und Wollmann hatten in Kitas und Kindergärten geworben, Aushänge aufgehängt: Mitplanen, mitgestalten, mitreden, stand darauf, dazu eine Kombination aus Like-Daumen und Bürokratendeutsch: «Euer Spielplatz soll neu gestaltet werden. Hierfür möchten wir die Meinungen und Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer – also insbesondere der Kinder – an eine Neugestaltung abfragen.» Jetzt frieren vor Jansen etwa 50 Leute im Hamburger Januar, 30 Kinder, viele Mütter, ein paar Väter. Franziska Nilsson, zwei Söhne, sagt: «Man muss nicht immer alles gleich neu machen.» Tanja Raub, zwei Töchter, murmelt: «Hoffentlich wird das nicht ewig eine Baustelle.» Julia Baudistel, ein Sohn, eine Tochter, sagt: «Ich habe grosse Angst.» «Je besser gebildet das Milieu ist, in dem wir einen Spielplatz bauen wollen, desto schwieriger ist es», sagt Herr Wollmann von der Stadt. «Es kann vorkommen, dass das Bildungsbürgertum beleidigt ist, wenn es nicht nach Gusto läuf. Alle wissen es besser. Die Leute mögen links von der Mitte wählen – aber was ihren Stadtteil anbelangt, sind sie konservativ. Sie hassen Veränderungen. Beim Grossstadtbürgertum mit Fairtrade-Bewusstsein sticht Altbau Neubau, Shabby Chic schlägt Hochglanz.» Und ein verlebter Spielplatz mit viel Gebüsch wie hier sei auf jeden Fall besser als diese modernen Spielplätze, die alle gleich aussehen, so die einhellige Meinung. Den Kindern ist das egal. Brav der Reihe nach diktieren sie Jansen ihre Ideen. «Mehr Dschungel», sagt ein Mädchen mit Pudelmütze. «Ein Piratenschiff», ruf ein Junge mit Fahrradhelm. Richtiger Buddelsand, eine Wassergeisterbahn, Platz zum Rennen! Am Ende lässt Jansen abstimmen. «Nur die Kinder», warnt Jansen übergriffige Eltern, dann kleben alle, die durchgehalten haben, rote und blaue Sticker auf die Karteikarten mit den Vorschlägen. Geht es nach den Kindern, werden eine Säbelzahntigerhöhle, ein Baumhaus, Trampoline und ein Dschungel entstehen. Siri trägt einen gelben Friesennerz. Sicher ist sicher im feinen Hamburger Sprühregen. Knöpfe zu, Kapuze auf und die langen Ärmel über die nasskalten Pfoten. Siri, dunkelblonde Haare, braune Augen und kesses Mundwerk, ist fünf, aber fast schon sechs, wie sie sagt, sie wohnt direkt die Strasse runter, fünf Minuten zu Fuss. Wer sich von ihr den Spielplatz zeigen lässt, vergisst den schmutzigen Sand und die trockene Wasserpumpe, wird eingenommen von der kindlichen Phantasie. Die Schaukel links liegengelassen, rein ins Gebüsch, wo sich eine Welt aufut, die spannender ist als jedes Klettergerüst. Hier das Erdloch, wo sie gern zusammen kochen, dort der Balkon, auf dem sie essen oder nach draussen gucken. Im Garten der Allesbaum, an dem immer viele reife Früchte von den Zweigen hängen. Und wenn es ihnen mal zu eng wird, gibt es ja noch den Busch mit dem geschwungenen Ast auf dem Hügel mit der Rutsche: Das ist das Wohnmobil, mit drei Plätzen an der Seite und einem Fahrersitz. Siris Meinung zum neuen Spielplatz: «Die Bäume müssen bleiben, auch zum Versteckenspielen.» Mathias Wollmann von der Stadt sagt dazu: «Manchmal müssen wir ein Gehölz rausnehmen, ein zu hoher Grünanteil kann auch hinderlich sein.» Er muss zusehen, dass die Spielplätze nicht ständig saniert werden müssen, er verwaltet ein striktes Budget. Stahl hält länger als Holz. Mai 2017. Wieder sind Schnuppi und Brauni dabei, wieder sind um die 50 Leute unter grauem Himmel zusammengekommen. Jansen und Wollmann stellen den Kindern zwei Entwürfe für den neuen Spielplatz ohne Namen vor, der eine heisst «Stadtdschungel», der andere «Im Fluss». Die gezeichneten Entwürfe hängen an Stellwänden vor dem kleinen Holzhäuschen mit Mini-Rutsche. In der angrenzenden Strasse berserkern Handwerker an einer Fassade herum, es ist irre laut, und so muss Jansen die Kinder anschreien: «Entweder es gibt einen Dschungel mit Baumhäusern! Oder ein ausgetrocknetes Flussbett mit Baumstämmen!» Er erklärt den Eltern, wo der Kleinkinderbereich entstehen soll und dass der Berg mit den alten Autoreifen, auf dem jetzt die Rutsche ist, leider wegkomme – Reifen sind laut TÜV mittlerweile verboten: die Schadstoffe. Aber der grosse Baum bleibt! Erleichtertes Gemurmel unter den Eltern. Tanja Raub sagt: «Ich hatte mir das schlimmer vorgestellt.» Julia Baudistel sagt: «Ich habe Hoffnung.» Franziska Nilsson sagt: «Abwarten.» Wieder dürfen die Kinder Sticker auf die Entwürfe kleben und auf einzelne geplante Spielgeräte, wieder ermahnt Jansen die Mütter und Väter: «Ihr dürf nicht mitmachen!» Bei der Abstimmung hat der Fluss keine Chance, mit 28:1 gewinnt der Stadtdschungel. Herr Wollmann kann die zweite Beteiligung, Punkt 16 auf seiner Checkliste, abhaken. Bis Punkt 25, Bauschild, dauert es vermutlich noch ein halbes Jahr, aber Wollmann ist zufrieden. Niemand hat sich beschwert, alles geht seinen Gang. Anders gesagt: Herr Jansen hat gute Arbeit geleistet. Ob Siri der neue Spielplatz gefallen wird? Bis hier gebaut wird, im Herbst, vielleicht im Winter, dauert es ihr noch viel zu lang. «Ich komme bald in die erste Klasse», sagt sie. Und ob sie dann noch so viel Zeit zum Spielen habe, das wisse sie wirklich nicht. (Anant Agarwala) Berlin Berlin-Pankow, Frühjahr 2016. Von ihrem Dachzimmer aus blickt Susanne Hube auf die Felder der Elisabeth-Aue und fragt sich, wie viel Gif in diesem Boden ist. Es ist März, die Felder färben sich langsam grün – zumindest rund um die Containerreihen, die sich über den Acker ziehen. Eigentlich sollten dort jetzt Kinder aus Syrien spielen, Eritrea oder Afghanistan. Eigentlich sollten sie und ihre Eltern in den Containern wohnen. Aber statt Flüchtlingsfamilien und einen Spielplatz gibt es jetzt einen Skandal. Susanne Hube, 48 Jahre alt, blondierte Haare, schmale Nase, müde Mundwinkel, hievt einen schweren Aktenordner aus dem Regal im Dachzimmer. Der Ordner ist voller Gesetzestexte. Gesetze, die in der Elisabeth-Aue gebrochen wurden. Vergifeter Boden? Gebrochene Gesetze? Die Geschichte um die Elisabeth-Aue am Nordrand von Berlin ist komplex. So komplex, dass Susanne Hube manchmal der Kopf schwirrt. Dann hält sie sich an ihrem schweren Aktenordner fest. Der erste Container steht nicht einmal hundert Meter von Hubes Terrassentür entfernt. Sie läuf die Treppe vom Dachzimmer hinab, öffnet die Haustür, Steinstufen führen durch den Garten zum Blaubeerweg. Hube ist hier zu Hause, immer schon. Als sie ein Kind war, leitete die DDR Abwässer und Industrieschlamm auf die Felder. Arsen, Cadmium und Blei sind in den Boden gesickert. Käfer oder Regenwürmer fand die kleine Susanne beim Spielen nie. Die Gife sanken 30 Zentimeter tief in die Erde, sodass später im oberen, unverseuchten Teil des Bodens zumindest Getreide wachsen konnte, das als Futtermittel für Tiere genutzt wurde. Hube kneif die Lippen zusammen, schüttelt den Kopf. Sie will nicht, dass die Flüchtlingskinder auf dem verseuchten Boden spielen. Hube hat gemeinsam mit anderen Anwohnern schon viel versucht, um dieses Szenario zu verhindern. Doch Politiker, Stadtplaner und Investoren bleiben stur: Die Geflüchteten sollen hierherziehen – wenn die «Tempohomes», eine Containersiedlung für knapp 600 Menschen, dann endlich fertig sind. Es ist laut draussen. Bagger reissen die Gehwege auf. Susanne Hube läuf den Blaubeerweg entlang zur Strasse. Kein Anwohner weiss, was hier eigentlich genau vor sich geht. «Jeder kleine Häuslebauer muss eine Bauanzeige stellen, bevor er baut, und seinen Anschluss an die Kanalisation bezahlen!», schimpf Hube. «Und bevor er einen Spatenstich tun darf, braucht er eine Baugenehmigung!» Nur bei ihnen in Pankow sei es anders, sagt sie. Hier donnern ohne Ankündigung Vierzigtonner über den Gehweg. Ohne Baugenehmigung dürfen keine Gehwege aufgerissen werden, so steht es in Hubes Gesetzesordner. Als einer ihrer Nachbarn bei der BIM, dem senatseigenen Immobiliendienstleister, anruf und wettert: «Sie bauen hier illegal auf dem Feld!», bekommt er die Antwort, das seien nur «bauvorbereitende Massnahmen». Das würde stimmen, wenn sie nur den Boden begradigen würden. Aber hier werden tiefe Löcher in die Erde gebaggert. «Es liegt eine Baugenehmigung vor», sagt jedoch der Senat, die Massnahmen seien zulässig. Manche Politiker werfen den Anwohnern vor, fremdenfeindlich zu sein. Schliesslich wollen sie Unterkünfe für Flüchtlinge verhindern. Was soll man da entgegnen? Gegen Flüchtlinge habe sie nichts, sagt Susanne Hube. Aber gegen das, was nach ihnen kommen soll: eines der grössten landeseigenen Megawohnprojekte, die «Gartenstadt des 21. Jahrhunderts». 5000 Wohnungen. Bis zu 12 000 Menschen. Das wäre das Ende der Stille am Blaubeerweg. Für Hube und ihre Nachbarn ist klar: Der Berliner Senat schiebt den Bau der Flüchtlingscontainer nur vor. So kann man das Feld schnell als Bauland ausweisen. Dann lässt man die Container ein paar Jahre stehen. Danach ist der Weg frei für das Megaprojekt. Da sei nichts dran, entgegnet der Senat. Die vorliegende Genehmigung ändere nichts am rechtlichen Status der Flächen und ersetze keinen Bebauungsplan. Eigentlich hätte hier draussen erstmal gar nicht gebaut werden dürfen. Aber 2015 herrschte Ausnahmezustand in Berlin, zuweilen kamen mehr als 1000 Flüchtlinge täglich in die Stadt, Wohnraum wurde dringend gebraucht – und die Elisabeth-Aue war als Ort für ein Flüchtlingsdorf erste Wahl: Die Berliner Stadtplaner wollen auf landeseigenen, also günstigen Flächen bauen und am besten da, wo ohnehin andere Bauprojekte vorgesehen sind. Hube will, dass die Elisabeth-Aue bleibt, was sie ist: ein Naherholungsgebiet, umgeben von einem Naturschutzgebiet und einem Landschafsschutzgebiet, das zu den artenreichsten in Deutschland gehört. Ein 70 Hektar grosses Feld, auf dem Eisvögel leben, Krähen und vom Aussterben bedrohte Feldhasen. Manchmal hört man nachts einen Hirsch röhren. Daran konnte selbst die Vergifung des Bodens zu DDR-Zeiten nichts ändern. Die Elisabeth-Aue ist Berlins letzte Frischlufschneise. Kühle Luf aus dem Norden zieht von hier in die Stadt und bewahrt sie vor Überhitzung. Das hatte auch Andreas Geisel festgestellt, als er noch Umweltsenator war. Jetzt ist er Senator für Stadtentwicklung und hat andere Prioritäten: Neuer Wohnraum wird dringend gebraucht, gern auch grosse Siedlungsprojekte aus der Retorte. Gut, dass man dafür im Jahr 2016 einen Joker im Ärmel hat: die Flüchtlinge. Weil es um die soziale Sache geht, darf man bauen, wo es vorher nicht erlaubt war. Umweltvorschrifen werden Makulatur. Eine staatliche Stelle (die BIM) beantragte den Bau, eine andere staatliche Stelle (die Bauaufsicht bei der Senatsverwaltung) prüfe den Antrag und erteilte dann die Genehmigung. Das heisst: Alle Beteiligten – vom Bauantrag über die Prüfung bis zur Genehmigung Susanne Hube versucht, den Überblick zu behalten: Sie beobachtet, fotografiert, telefoniert, sichtet Akten. Ihren ersten Erfolg feiern sie und ihre Mitstreiter im Juni 2016: Das Umwelt- und Naturschutzamt Pankow verhängt einen Baustopp – weil der Artenschutz missachtet worden ist. Aber zehn Tage später graben die Bagger wieder: Die nötigen Papiere sind beschafft, ein Ornithologe soll dafür sorgen, dass keine Vögel beim Brüten gestört werden. Doch dann ist da die Sache mit dem Asbest. Im Sommer finden die Anwohner offene Asbestrohre und Teile davon. Relikte der Industriestadt Berlin. Die Anwohner müssen sich mit Vorwürfen herumschlagen, sie hätten die Rohre dort extra drapiert. Ein Rohr, das Hube meldet, verschwindet über Nacht. In einer anderen Nacht tauchen an Bushaltestellen und Bauzäunen Aushänge auf, DIN A4, laminiert, angeblich vom Umwelt- und Naturschutzamt. Warnungen vor Asbeststaubbelastung in der Luf, unter Totenkopildern steht: «Bitte halten Sie Ihre Fenster geschlossen. Schützen Sie sich und Ihre Kinder mit einem Atemschutz.» Das Amt dementiert, die Schilder seien gefälscht. Hube weiss bis heute nicht, wo die Schilder herkamen. Auf jeden Fall hat sie Angst vor dem Staub, den die Laster aufwirbeln. Eine dicke Schmutzschicht legt sich auf alles, Autodächer, Fensterscheiben, den Terrassentisch. Es regnet lange nicht im Sommer 2016. Auf dem Feld stehen zwar Hydranten, aber Schläuche sind nicht angeschlossen, gesprengt wird nicht. «Klarer Verstoss gegen das Emissionsschutzgesetz, ob kontaminiert oder nicht», referiert Hube. Nur an einem Tag stehen die Fahrzeuge still, am 30. September 2016. Hoher Besuch hat sich angekündigt, der Projektleiter der BIM und der Umweltbezirksstadtrat. An diesem sonnigen Freitag ist das Feld staubfrei. Keine Bauarbeiten, dafür abgesteckte Wege. Der Wachschutz trägt ordentliche Uniformen, an einer Containerwand sind die Baupläne angepinnt, die Gruppe marschiert zwischen Sperrbändern über das Gelände. Manche Nachbarn erinnert der Besuch an die DDR-Zeit: «Wenn die Bonzen kamen, wurde auch immer alles geschönt», tuscheln sie. Zwei Wochen später sieht Hube bei einem Spaziergang Fahrzeuge einer Verprobungsfirma hinter einem Gebüsch. Die Ergebnisse der Bodenproben rückt die BIM lange Zeit nicht raus, weder an die Anwohner noch an den Umweltrat. Gesundheitlich geht es Susanne Hube nicht gut: Sie ist müde, die Augen jucken. Auch andere Nachbarn klagen über Ausschläge und Husten. Schliesslich lässt Hube sich bei einem Spezialisten untersuchen. Sie hat erhöhte Cadmium- und Arsenwerte im Blut und stellt Strafanzeige wegen Staubbelastung durch kontaminierten Boden. Das Landeskriminalamt ermittelt. Aber Umweltmediziner glauben nicht, dass der Staub allein schuld ist. Von der BIM heisst es, die vielen Lebensjahre am belasteten Feld seien sicher schuld an Frau Hubes Gesundheitsschäden. Im November türmen sich Erdpyramiden auf dem Feld. Susanne Hube ist in einem perlweissen Steppparka auf einem ihrer Erkundungsgänge unterwegs. Sie versteht nicht, warum die Bauarbeiter den umgegrabenen schadstoaltigen Boden auf den Acker geladen haben, ohne ihn abzutrennen oder abzudecken. Sie hat alles dokumentiert und fotografiert. Auch die Laster, die im Fünfminutentakt ankommen, Sand abkippen und mit einer Ladung kontaminierter Erde wieder wegfahren. «Wer weiss, auf welcher Baustelle das jetzt verbaut wird», sagt Hube. Es gibt in ihrem Ordner auch ein Foto von dem Transportschein, den der Lkw-Fahrer ihr gezeigt hat – darauf ist der Boden als unbelastet deklariert. Die BIM sagt, bedenkliche Bodenwerte gebe es nur nahe der Stelle, wo früher die Gife eingeleitet wurden – und dort habe man die Erde sachgerecht abgetragen und auf eine Sondermüll-Deponie gebracht. Für Hube ist die Sache klar: Ein korrekter Abtransport von belastetem Boden wäre zehnmal teurer, damit nicht bezahlbar und ausserdem eine utopische Menge für die wenigen Sonderdeponien in der Region. Berlin-Pankow, Frühjahr 2017. Nach einem Jahr stehen die Container noch immer leer. Susanne Hube hält von ihrem Dachfenster aus Ausschau nach Feldlerchen und Goldammern. Bald ist wieder Brutzeit. Mittlerweile stehen ein zweiter und ein dritter Ordner in ihrem Regal, es kommen immer neue Ärgernisse hinzu. Immerhin hat der neue Berliner Senat den Anwohnern einen Etappensieg beschert: Das Megaprojekt Gartenstadt ist fürs Erste vom Tisch. Aber Susanne Hube traut dem Frieden nicht. Eine neue Regierung könnte das Projekt jederzeit wieder auf den Tisch bringen. 2021 sind Wahlen. (Jenni Roth) München Nicht schlecht, die Wohnung, denke ich, während ich über das Eichenparkett laufe. Es fühlt sich gut an unter meinen Füssen, alles ist eben, keine Türschwellen, über die man stolpern könnte wie in meiner Altbauwohnung. Heute gönne ich mir den Luxus. Denn heute bin ich ein anderer als sonst. Einer, der Geld hat. Ein Snob. Für einen Tag bewege ich mich durch den Münchner Luxuswohnungsmarkt. Um zu sehen, wo er hingeht, all der Wohnraum, den normalverdienende Menschen so verzweifelt suchen. Deswegen jetzt also: 137 Quadratmeter, vier Zimmer, Balkon, Gartenmitbenutzung, Tiefgarage, Masterbad mit Wanne, Gäste-WC mit Dusche, Kellerabteil, Personenaufzug, alles in allem rund viereinhalbtausend Euro Miete, wenn man die zwei Autostellplätze im Keller dazu bucht. Enthalten sind ausserdem ein Concierge, ein Wachdienst, eine private Kindertagesstätte und ein hausinterner Wellnessbereich. Mit prüfendem Blick wandere ich langsam die einzelnen Zimmer ab. «Im Grunde suche ich genau so eine Wohnung», sage ich möglichst beiläufig zur Maklerin. Das Apartment, das es mir angetan hat, liegt im «Seven», einer noblen Adresse am Rande des Glockenbachviertels. Im Internet wurde es als «Juwel» angepriesen, als «Extraklasse in einem der exklusivsten Neubauten». Die Wohnung gefällt mir. Die Decken sind hoch und die Räume hell. Ich nicke angetan. Auch die in der Wand versenkten Schränke sind chic und schliessen, wie es sein sollte, geräuschlos. Die Designerküche, ebenfalls aus Eiche, nun ja, die ist natürlich Geschmacksache. Den Wellnessbereich darf ich nicht sehen. «Geht leider erst», meint die Maklerin, «wenn der Mietvertrag unterschrifsreif ist.» Als ich empört meine Augenbrauen hochreisse, beschwichtigt sie, es gelte die Privatsphäre der Nachbarn schützen. Das verstehe ich natürlich, in meiner Rolle als Snob versichere ich ihr, dass es auch mir um völlige Ruhe gehe, weshalb es mir hier durchaus gefalle. Das «Seven» ist zwölf dunkel verglaste Stockwerke hoch, von aussen alles verspiegelt, weshalb es fast drohend wirkt. Keine Anzeichen mehr erkennbar, dass es einmal ein Heizkrafwerk war. Hier zeigt sich eine Entwicklung, wie sie an Gebäuden in Florenz, Barcelona oder Venedig schon länger stattfindet: Sie haben sich zu Heimstätten des globalen Jetsets entwickelt. Von «Opernwohnungen», die nur für wenige Wochen im Jahr während der Opernsaison belegt sind, wird auch in München bereits gesprochen. Man ist hier unter seinesgleichen – unter Vermögenden. Ein hoher Metallzaun, Kameras, ein Portier am Eingang. Ich hatte gehofft, dass ich einen meiner künfigen Nachbarn sehen würde. Aber das «Seven» ist an diesem Vormittag wie ausgestorben. Die einzigen Menschen hier sind zwei Gärtner, die auf dem Vorplatz stoisch Kies harken. Ich habe mehr als drei Jahre in München gewohnt. Ich liebe die Stadt, noch immer. Ich genoss es, durch den Englischen Garten zu flanieren oder an der Isar entlang zur Arbeit zu radeln, ich mochte es, mich im Sommer im Eisbach treiben zu lassen, ich erinnere mich an Spaziergänge mit Freunden zum Flaucher und an den grandiosen Blick auf die fernen Berge, den ich vom Gemeinschafsbüro im Kontorhaus an der Grossmarkthalle genoss. Ich vermisse all das, und natürlich auch die Menschen, die ich zurückgelassen habe, aber trotz allem bin ich im vergangenen Jahr mit meiner Frau aus der Stadt und aus Bayern fortgezogen. Mitte 2015 mussten wir uns eine neue Wohnung suchen. Wir wollten weiter nahe der Innenstadt leben, nicht auf einen Balkon verzichten, und unser Besuch sollte übernachten können. Also klickten wir uns durch Immobilienportale und fragten Freunde. Doch bald stellten wir fest, was wir längst wussten: Der Münchner Mietmarkt ist erstarrt. Kaum jemand zieht mehr innerhalb der Stadt um und gibt eine Wohnung frei. Regelmässig hatten uns Bekannte von wahnwitzigen Preisrekorden bei Neuvermietungen, horrenden Mieterhöhungen oder Studentenzimmern für 800 Euro berichtet. Nichts treibt die Münchner mehr um als die Furcht, aus den eigenen vier Wänden zu müssen. München wird von Privatiers regiert. Im obersten Stockwerk des «Seven» sollte eigentlich dem Willen der Stadt nach ein Café einziehen, ein letztes bisschen öffentlicher Raum. Aber der Investor setzte sich durch und erschuf hier seine eigene Utopie: ein einziges Penthouse, siebenhundert Quadratmeter gross mit umlaufender Terrasse und Alpenpanorama. Ein Traum! Würde ich mir gerne anschauen, aber die Konkurrenz hat leider schon zugegriffen. Stattdessen stehe ich in dieser Wohnung im zweiten Stock. Es ist eine der wenigen, die vermietet werden. Jetzt schaut mich die Maklerin erwartungsvoll an. Sie trägt ein enges Kostüm, hat lange, lockige schwarze Haare und lächelt so unverbindlich und undurchschaubar wie aus einem Katalog. Ob sie erkannt hat, dass ich mir diese Wohnung allenfalls für eine recht überschaubare Zeit leisten könnte? Ich habe vorab befürchtet, dass man mich nach meinem Beruf oder meiner Liquidität fragen könnte. So etwas geschehe nicht, hat mich ein Makler beruhigt, den ich um ein kleines «Coaching» für meine Recherche gebeten hatte. Zur Not solle ich sagen, ich sei Privatier. Davon gebe es in München reichlich. Verdächtig sei, wer sich überkandidelt anziehe oder auf dicke Hose mache. Um nicht aufzufallen und weder zu arm noch zu protzig zu wirken, trage ich heute einen nachtblauen Trenchcoat, eine sandfarbene Stoose und schwarze Lederschuhe. «Mir gefällt der Ausblick vom Balkon nicht», sage ich zur Maklerin. Man sehe die Alpen nicht. Da kann sie natürlich nichts machen. Ob ich alternativ was zum Kaufen suchen würde, fragt sie. Da hätte sie was. Ich winke ab, ich hätte reichlich Häuser geerbt und wolle nicht noch mehr verwalten müssen. Für viele Wohnungssuchende ist München eine Horrorstadt. Ständig wird über die Mietpreise gesprochen, egal, auf welcher Par. München war schon immer teurer als andere deutsche Städte. Aber seit einigen Jahren gibt es nahezu keine freien Wohnungen mehr. Und trotzdem ziehen jährlich mehr als zehntausend Menschen in die Stadt und Tausende werden zugleich verdrängt, vor allem Kassierer, Friseure, Taxifahrer, Künstler, Freischaffende. Wer eine grosse Wohnung hat und in Rente geht, findet keine kleinere mehr, weil die mittlerweile of teurer sind. Familien können sich wiederum keine grössere leisten. Nur im Luxussegment finden sich noch etliche Angebote, und man bekommt rasch einen Termin. Ich mache mich auf zur nächsten Wohnung, ins Lehel, einen perfekt gelegenen Stadtteil zwischen Isar, Englischem Garten und Altstadt. Da würde ich gerne leben! Die «Lehel Höfe», wo ich vorbeischaue, stehen auf einem Grundstück einer katholischen Kirchengemeinde. Von «Luxusbau» schrieben die Zeitungen und einem «umstrittenen Wohnprojekt». Was soll’s, denke ich mir in meiner Rolle als Snob, Hauptsache, die Wohnung überzeugt mich! Stolz führt mich die Besitzerin durch ihre drei Zimmer und versichert, dass eine Eigennutzung nicht geplant sei. Sie lebe mit ihrer Familie in einem Haus mit Garten ausserhalb der Stadt, die Kinder seien jung, und wer wisse schon, ob sie überhaupt in München studieren würden. Wir betreten den Balkon und blicken in einen Innenhof, in dem ein einsamer Baum in einer Betonfläche steht. So sieht sie also aus: die Nachverdichtung, von der alle in München reden. In den «Lehel Höfen» spürt man, dass Grenzen erreicht werden: Mehr Menschen und Wohnungen passen hier nicht rein. «Ich suche einen Mieter, der sofort einzieht», sagt die Eigentümerin. Dafür lasse sie bei der Miete mit sich reden. Statt, wie annonciert, 2600 Euro kalt für knapp hundert Quadratmeter sei Luf nach unten. Sieht sie mir an, dass für mich Geld doch eine Rolle spielt? Ich werde unsicher. Aber da preist sie schon wieder ihre Wohnung an, weist auf die harmonische Farbgestaltung hin, die neuen Küchengeräte, etwa einen runden Dampfgarer, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Sie erklärt mir: «Das ist für Menschen, die wenig Zeit haben und viel arbeiten müssen.» Ich sage: «Aha, deshalb kenne ich das Gerät nicht.» Sie lacht, und ich fühle mich in meiner Rolle wieder sicher. Als ich noch in München lebte, hatte sich das Leben in der Metropole bereits tiefgreifend verändert. Räume für die alternative Szene, für Künstler und Kreative waren verschwunden und viele von ihnen fortgezogen. Und der Wandel ging immer weiter. Wann er angefangen hat, weiss keiner. Er hat sich eingeschlichen. Immer mehr Grossunternehmen verlegen ihre Zentralen in die Stadt. Zuletzt ist Microsof hinzugekommen und hat Tausende Angestellte mitgebracht, die nun alle eigene vier Wände brauchen. Für eine letzte Wohnungsbesichtigung fahre ich mit dem Bus zum nördlichen Stadtrand und erblicke dort die Zukunf der Stadt: Im Neubaugebiet Parkview steht der Makler an einer Piste, die noch asphaltiert werden muss. Er dürfe Anfang dreissig sein, trägt einen ungepflegten Vollbart und einen lässigen Kapuzenpulli, was ich als recht schnoddrig empfinde. Wir staksen durch einen Rohbau, der in ein paar Monaten fertiggestellt sein wird. Die kleineren Wohnungen in der Siedlung seien alle bereits vermietet, sagt der Makler. Aber die interessieren mich ohnehin nicht. Die Siedlung sieht aus wie ein Themenpark für Angestellte eines globalen Unternehmens. Laut Prospekt gehört sie zu Schwabing- Freimann, was übertrieben ist, da Schwabing einige Kilometer südlich liegt. Schon als Besucher fühle ich mich wie in einem Durchlauferhitzer: Hier werden ein paar Jahre lang Menschen wohnen, die nichts mit München verbindet ausser ihr Job in einem der Bürotürme. Sie dürfen sich eine Zeitlang heimisch fühlen, werden an Samstagen die Stadt als Konsumtempel erobern und an Sonntagen die Alpen stürmen. Dann werden sie weiterziehen. Ich tagträume von Managern und Vermögensverwaltern, die wie Zombies durch die Strassen laufen. Da erzählt der Makler plötzlich von einem Mieter, der sofort unterschrieben hat. Begeistert habe der als Allererstes bemerkt, dass er von seiner Badewanne aus das Büro erblicken könne. (Dirk Liesemer) Leben im Wandel Seit Jahrzehnten zieht es in Europa immer mehr Menschen vom Land in die Stadt. Das Phänomen der «Landflucht», das man eigentlich nur aus Schwellenländern kannte, ist längst auch in Deutschland und der Schweiz angekommen. Die Folge: In den Grossstädten wird der Platz knapp. Jeder Einwohner will, dass gerade seine ganz speziellen Bedürfnisse beachtet werden. Kompromisse sind nur schwer zu finden. Das bietet jede Menge Konfliktpotenzial. Wem gehört die Stadt? Diese Frage stellten wir fünf Autorinnen und Autoren aus der Schweiz und Deutschland. In Zürich, München, Köln, Berlin und Hamburg gingen sie für uns auf die Suche nach Antworten. Ihre Texte zeigen verschiedene Facetten städtischen Wandels, wie fünf Kapitel einer langen Geschichte beleuchten sie die Veränderungen, mit denen wir leben (müssen). Slow Journalism Für die fünf Reportagen, die hier nun zu einem Kaleidoskop zusammengefasst sind, gaben wir den Autorinnen und Autoren ein Jahr lang Zeit zur Recherche. Dadurch war es möglich, Entwicklungen längerfristig zu begleiten und ein präziseres Gefühl für die Komplexität des jeweiligen Themas zu bekommen. Das Langzeitprojekt wurde begleitet von Abendveranstaltungen in den jeweiligen Städten. In diesen Werkstattgesprächen konnte das Publikum die Autorinnen und Autoren zu ihrer Recherche befragen und die journalistische Arbeit durch Ideen und Anregungen mitgestalten. Man konnte ausserdem die Menschen kennenlernen, um die es in den Reportagen geht. Autorinnen und Autoren Carole Koch wohnt zwar in Zürich, fühlt sich aber vor allem in der Natur so richtig zu Hause, besonders in den letzten wilden Gebieten der Schweiz. Judith Luig, die in Berlin lebt, hat ein Herz für Köln, da sie lange dort gelebt hat. Anant Agarwala ist in Hamburg geboren und aufgewachsen, entsprechend hat er in seiner Kindheit lange und intensiv die Spielplätze der Stadt getestet. Jenni Roth, die als Halbfinnin nicht ohne Natur kann, findet davon viel mehr, als man vielleicht denken könnte in ihrer Wahlheimat Berlin. Dirk Liesemer ist mittlerweile aus dem teuren München in das noch nicht ganz so teure Leipzig umgezogen.